Zu guter Letzt:  Beethovens "Neunte" - Werden alle Menschen Brüder?

Herzlich willkommen zum siebten und gleichzeitig letzten Teil dieser besonderen Hörreihe in besonderen Schulzeiten. Corona hat uns aus dem gewohnten Schulalltag herausgerissen und uns neue Wege aufgezwungen, das zu erfahren und zu erlernen, was uns als Schule zusteht. Hier geht es um das wertvolle Kulturgut der Musik, die uns auf ganz eigene Art immer etwas zu sagen hat - ohne Mundschutz und ohne Desinfektionsmittel. Wer ihr zuhört, muss nicht hörbar antworten und bleibt dennoch im Dialog mit ihr. Das schätze ich an Musik ganz besonders.

Musik gehört aktuell nicht zum Angebot des Präsenzunterrichts. So hoffe ich, dass ich allen Interessierten die Ohren für diesen Austausch mit der Musik dennoch weiter öffnen konnte und kann und danke daher allen mir unbekannten Mitlesern und Zuhörern fürs Dabeisein!

Die heutige 7. Folge ist anders als die bisherigen. Es ist keine Auswahl verschiedener Musiken zu einem Aspekt. Sie widmet sich nur einem Werk und dabei auch nur an der Oberfläche. Aber es handelt sich um ein Werk, das wieder einmal in ganz besonderen Momenten - sei es zum vereinten Europa, sei es zum Mauerfall oder sei es jetzt zur Corona-Pandemie - hervorgeholt wird: Beethovens 9. Sinfonie, genauer gesagt der Schlusschor mit der Schillerschen "Ode an die Freude". Ich wünsche spannendes Erleben in sechs Hörstationen - vielleicht auch in Gedenken an den 250. Geburtstag des Kompinisten in diesem Jahr. (Zeitaufwand ca. 45 Minuten)

Euer Stefan Reitz

L. v. Beethoven: „Die Neunte“ - Werden alle Menschen Brüder?

Hätte Friedrich Schiller das erahnen können? Als Dichter, Philosoph, Historiker und Arzt war er längst berühmt genug. Neben Johann Wolfgang von Goethe zählt er bis heute zu den wichtigsten deutschen Dichtern des späten 18. Jahrhunderts. Dass aber gerade ein Gedicht von ihm erst durch die Musik berühmt, genau genommen weltberühmt wurde, hat er sicher nicht erahnen können.

Gemeint ist die „Ode an die Freude“ (heute eher bekannt unter „Freude, schöner Götterfunken“), die wir irgendwie alle als Lied kennen:

https://www.youtube.com/watch?v=Bylj_hZPv-8

Melodien prägen sich nicht selten besser ein als komplizierte Texte – vor allem, wenn sie einfach zu singen sind und ‚gut ins Ohr gehen’. Wahrscheinlich war es mit dem Gedicht von Herrn Schiller auch so. Denn ganz so leicht zu verstehen ist der Inhalt nicht, oder verstehst Du, worum es in den ersten Strophen geht?

Tipp: Lies den Text zunächst selbst langsam und höre ihn dann noch einmal von einem ausgebildeten Sprecher an. Hier der Anfang des Originals – später wurden einige Wörter verändert. Z. B. wurde aus „Bettler werden Fürstenbrüder“ dann „Alle Menschen werden Brüder“.

Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter Flügel weilt.

Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu seyn;
wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!

https://www.youtube.com/watch?v=9fkuYnAdo2o

Versucht man, aus allen neun Strophen eine Grundaussage des Textes zusammen zu fassen, so geht es Schiller letztlich darum, das Wort „Freude“ zu beschreiben, was sie ist und was sie unter den Menschen – dort wo sie besteht - bewirkt: Brüderlichkeit und Frieden.

Das ist eine große Sehnsucht, die er da mit allen Mitteln der Dichtkunst zum Ausdruck bringt. Nicht umsonst wurde dieser Text mitsamt seiner Melodie Jahrhunderte später im Jahr 1972 zur Hymne Europas!

Nun aber zur Musik. Mehrere Komponisten hat dieser Text begeistert, doch nur einer hat gewissermaßen die Charts mit dem Platz 1 belegt: Ludwig van Beethoven. Dass er mit diesem Werk noch einmal den Platz 1 zu seinem 250. Geburtstag im Corona-Jahr 2020 belegen sollte, hat sicher keiner vorhersehen können. Weniger bekannt geworden ist beispielsweise die Fassung von Franz Schubert. Höre diese zunächst einmal an: https://www.youtube.com/watch?v=bVSKNCKbBE0

Beethoven hat im Gegensatz zu Schubert viel Größeres gewagt. Ein zierliches Lied für Singstimme und Klavier wie bei Schubert stand bei ihm nicht zur Diskussion. Nein, er nimmt die größtmögliche Besetzung, welche die Musik damals überhaupt zu bieten hatte: ein großes Sinfonieorchester, ein großer gemischter Chor und vier Gesangsolisten. Heutzutage sind dafür nicht selten 40 – 60 Orchestermusiker und 80 – 120 Sänger im Einsatz!

Beethoven wollte das bewusst so. Es war ihm wichtig. Es sollte eine Musik mit möglichst vielen Musikern werden, die alle gemeinsam etwas Besonders mitzuteilen hatten. Und wem? Allen Menschen dieser Welt. Es sollte damit auch seine letzte große Sinfonie werden, diese berühmte „Neunte“. Drei Jahre nach der Uraufführung starb er im Jahr 1827.

Diese Sinfonie hat den Rahmen von allen bis dahin komponierten Sinfonien gesprengt, nicht nur wegen der zahlreichen Musiker, sondern auch wegen der Länge: über 70 Minuten dauert die Aufführung! Dieses Werk aufzuführen, ist deshalb auch entsprechend anstrengend.

In einer Sache wagte er jedoch bis dahin gänzlich ‚Unerhörtes’: War doch die Sinfonie eigentlich die große Musik für das Orchester schlechthin, also nur für Instrumente. Nun bezieht Beethoven aber noch zusätzlich Singstimmen mit ein, und die in nicht gerade kleiner Zahl.

Wenn Du mehr über diese Besonderheiten dieser weltberühmtesten Sinfonie von unserem Jubilar erfahren möchtest, dann folge den folgenden Hörstationen mit den jeweiligen Zeitangaben zu den Videos. Wenn nicht, dann schaue Dir lediglich das letzte Video am Ende des Textes an.

(Die folgenden Beispiele stammen übrigens von Konzerten aus sehr berühmten Konzerthallen: Royal Albert Hall in London, Beethoven-Halle in Bonn, Elbphilharmonie in Hamburg).

 

„Beethovens Neunte“ - Sechs Hörstationen

 

Station 1. Höre Dir die Stelle an, bei der zum ersten Mal die berühmte Melodie erklingt. Sie befindet sich im letzten (4.) Satz der Sinfonie. Stelle Dir dazu auf der Zeitleiste Minute 8:16 ein. (Dieses erste Beispiel stammt aus der Royal Albert Hall in London)

https://www.youtube.com/watch?v=ChygZLpJDNE ab Minute 8:16 bis ca. 9:48

Station 2. Im letzten Teil der Sinfonie, in dem diese schöne und berühmte Melodie erklingt, überrascht jedoch Beethoven mit einigen Kuriositäten. Er macht es dem Hörer nicht gerade einfach, endlich diese Melodie hören und vielleicht auch innerlich mitzusingen zu können. Eigentlich beginnt dieser Abschlussteil einer Sinfonie immer sehr wohlklingend und mächtig. Doch Beethoven hat es sich diesmal anders überlegt. Höre Dir die ersten Sekunden des 4. Satzes kurz an. Die folgenden Beispiele stammen aus der Beethoven-Halle in Bonn: https://www.youtube.com/watch?v=cep8Ru4TL4k    ab Minute 0:00 bis 0:40

Station 3. Das klingt nicht schön! In der Fachwelt der Musiker nennt man diesen Anfang „Schreckensfanfare“. Höre Dir noch einmal diesen Anfang jetzt bis Minute 2:38 an. Du wirst merken, dass diese schrägen und lauten Klänge überwiegend von den Bläsern und Pauken gespielt werden. Jedoch möchten einige Instrumente des Orchesters (die Streicher) diese Klänge nicht mitspielen und unterbrechen die laute Fanfare immer wieder mit ihrem Spiel. Sie möchten schönere, leisere und friedlichere Klänge spielen. Man hat den Eindruck, als wollten sie die „Schrecklichen“ beruhigen.

https://www.youtube.com/watch?v=cep8Ru4TL4k bis Minute 2:38

Station 4. Und sie scheinen Erfolg zu haben, denn plötzlich erklingt von ihnen ganz leise die berühmte Melodie von „Freude, schöner Götterfunken“. Beim Hören ab Minute 2:38 wirst Du feststellen, dass offensichtlich nun immer mehr Instrumente im Orchester an dieser Melodie gefallen haben und ebenfalls mitspielen möchten, sogar die Pauken und Blechbläser aus der „Schreckensfanfare“:
https://www.youtube.com/watch?v=cep8Ru4TL4k ab Minute 2:38 bis 5:40

Station 5. Leider hält dieses fröhliche gemeinsame Musizieren nicht lange an, denn die „Schreckensfanfare“ stört unerwartet wieder diesen Wohlklang (Minute 5:47). Genau an dieser Stelle wagt Beethoven nun den bis dahin nie erlebten Auftritt eines Sängers in einer Sinfonie. Er schreitet gewissermaßen wie ein Polizist ein und ruft dazu auf, nicht diese schrecklichen Töne, sondern angenehmere zu spielen: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.“

https://www.youtube.com/watch?v=cep8Ru4TL4k ab Minute 5:48 bis 6:46

Station 6. Von nun an erklingt endlich in voller klanglicher Pracht von Orchester, Chorsängern und Solo-sängern das uns bekannte berühmte „Freude, schöner Götterfunken…“. Und wie es sich für einen berühmten Komponisten wie Beethoven gehört, überlegt er sich noch weitere etwa 13 Minuten, wie er diese Melodie mit dem Text von Friedrich Schiller in unterschiedlichsten Weisen musikalisch umsetzen kann: mal sehr eingängig für Gewohnheitshörer, mal sehr kompliziert für musikalische Insider. Höre und schaue Dir dazu zum Abschluss diese Aufnahme an. Sie stammt aus dem jüngsten und modernsten Konzertsaal Europas, der „Elbphilharmonie“ in Hamburg.

https://www.youtube.com/watch?v=-JDQ2NkHVc8

 

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Warum Beethoven das alles so ungewöhnlich komponiert hat, darf ein Geheimnis bleiben und jeder Mensch, der dieses Werk hört, kann versuchen seine eigene Lösung dafür zu finden. Ich glaube, dass er hier einen musikalischen „Kampf“ zwischen Gut und Böse komponiert hat. Wenn Du richtig aufgepasst hast, konnten die Instrumente alleine ihren Streit untereinander nicht beenden. Erst die mahnenden Worte eines Sängers um „angenehmere Töne“ führen zu einer Lösung: Es sind die Worte Schillers „an die Freude“, die Beethoven nun hinzu nimmt und gemeinsam von singenden Menschen und Instrumentalisten musizieren lässt. Mit großem Erfolg: Alles wird gut! - Zumindest in der „Neunten“.

 

Ach so: Was wird aus meiner fragenden Überschrift „Die Neunte“ - Werden alle Menschen Brüder?

War das nur eine kleine spontane Idee oder war es eine große Vision von Herrn Schiller und Herrn Beethoven? Es ist schon eine sehr merkwürdige Fügung, dass gerade dieses Werk ein weiteres Mal in die Charts auf Platz 1 kommt: 2020, dem „Corona-Jahr“, zu seinem 250. Geburtstag!

Seitdem fast überall auf dieser Erde Corona ausgebrochen ist, hat es unzählige Menschen auf ihre Balkone oder in virtuelle Chöre zusammen geführt um gemeinsam genau dieses Lied zu singen. Warum gerade dieses? Beethoven und Schiller wussten vielleicht, warum wir Menschen diese Visionen brauchen und haben es uns mit ihren Künsten hinterlassen.

Wenn alle, die mitgesungen oder zugehört haben, es tatsächlich ernst meinen und verstehen, was sie da gesungen haben, wenn alle Mächtigen auf dieser Erde davon auch etwas verstehen würden, dann könnten wir nach Corona vielleicht nicht nur in unseren Nachbarschaften, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa sondern in allen Ländern der Erde ein große Freude brüderlich teilen!

 

Euer Stefan Reitz

 

https://www.youtube.com/watch?v=SnXxb_V_5iU